3. Scherenschnitt heute

Verstärkt seit den 1990er-Jahren lässt sich in der internationalen Gegenwartskunst ein erneutes Interesse am Scherenschnitt beobachten. Viele Künstlerinnen und Künstler entdecken meist durch experimentellen Umgang mit Papier die alte Technik des Scherenschnitts neu. Auch die Künstlerinnen und Künstler des Deutschen Scherenschnittvereins haben den Scherenschnitt in die Moderne katapultiert. Zahlreiche Aufsätze in der Vereinszeitschrift Schwarz Auf Weiß des Deutschen Scherenschnittvereins zeugen hiervon. Die Schnittbilder sind in technischer und künstlerischer Qualität überzeugend, auch wenn die Künstlerin, der Künstler nicht zwingend eine künstlerische Ausbildung durchlaufen haben muss. Viele von ihnen konnten bereits Erfahrungen im Ausstellungsbetrieb sammeln.

Eine Vorreiterrolle im zeitgenössischen Papierschnitt nimmt der Düsseldorfer Künstler Felix Droese ein. Droese hat mit seinen Papierarbeiten seit den siebziger Jahren den traditionellen Scherenschnitt erstmals als politisches Medium begriffen. Als kritischer und ironischer Beobachter seiner Zeit schneidet der Beuys-Schüler politische Statements und stellt existenzielle Fragen, denen wir uns stellen müssen. In seinen meist monumentalen Schnittbildern und Installationen entwirft er Denkmodelle, die einen Reflexionsprozess initiieren. Droese bezeichnet seine Papierschnitte in Anlehnung an den Existenzphilosophen Søren Kierkegaard (1813–1855) als »Schattenrisse«, denn sie berichten von »des Lebens Schattenseite« und sind »wie Schattenrisse nicht unmittelbar sichtbar«. Erstes großes internationales Aufsehen erregte Droese 1982 mit seinem Beitrag zur documenta 7 in Kassel mit der Schattenriss-Installation Ich habe Anne Frank umgebracht. Ähnliches Echo erzielte der Künstler mit seinem Beitrag für den Pavillon der Bundesrepublik Deutschland 1988 bei der Biennale Venedig mit seinem Haus der Waffenlosigkeit, das später auch als Droeses erste Ausstellung in den USA ans Massachusetts Institute of Technology ging.

Sozialkritisch sind auch die Schwarzschnitte von Reginald Gregorowius, der in seiner Serie »Schwazer Silberbergwerk« in groben Schnitten – ähnlich wie Droese in seinen »Schattenrissen« –, sich mit dem harten Leben unter Tage auseinandersetzt. Mit feinen Schnitten schildert dagegen Ursula Vögtlin-Breitgraf, wie Emigranten oder Asylsuchende auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben sind. Schnell sind Assoziationen vom so genannten Arbeiterstrich geweckt.

Hartmut Klug: Der Tod und der Maler

Hartmut Klug: Der Tod und der Maler

Die Erzählkraft der Silhouette wird nach wie vor von vielen Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen. Der chinesische Scherenschnitt-Lehrer Jianjun Duan, der in China eine bekannte Persönlichkeit ist, hat sich auf das Leben der Nomaden spezialisiert. Sein Schnitt zeigt, wie ein Mann versucht, ein Rind einzufangen. Eva Maria Gehrle schildert hingegen einen Sonntagnachmittag »Im Englischen Garten«, Barbara Ihle lässt eine Gospelsängerin auftreten und Bettina Günst greift den volkstümlichen Schwarzschnitt auf und berichtet von »Einschneidenden Erlebnissen«, wie Heirat, Geburt und Tod. Cornelia Ernenputsch lässt in ihrem großformatigen Scherenschnitt den Tanz des Lebens aufführen, der wie ein Strudel den Betrachter einsaugt. Hartmut Klug beschäftigt sich seit langem mit dem Thema Tanz und Totentanz. Das in der Malerei traditionelle Motiv Maler und Tod setzt er humoristisch um.

Wulfhild Tank veranschaulicht den abstrakten Prozess des Gedankenaustausches, indem sich drei Kreise mit Strukturen im Schnittpunkt treffen und jeder Teil des anderen wird. Petra König wiederum stellt uns einen »Traumtänzer« vor. Sie verdoppelt die verschwommene Figur und verdeutlicht so bürgerliche und schwärmerische Existenz. Gunthild Zimmermann erinnert mit ihrem »Papiertheater« an die Anfänge von Scherenschnitt und Schattenbild. Kinder führen ein Märchenstück mit selbst geschaffen zweidimensionalen Stabfiguren auf.

Bei Helmut Kleinschmidt hingegen entsteht das Schattenbild nicht mehr mit Papier und Schere, sondern aus dem Computer. Giselher Gauhl demonstriert die Aktualität der antiken Komödie »Lysistrata« von Aristophanes (446 v. Chr.–386 v. Chr.). Ausgangspunkt ist der bereits Jahre andauernde Krieg Athens gegen Sparta (5. Jh. v. Chr.). Lysistrata (griech. Heeresauflöserin) ist dies leid und ruft zum Boykott aller Bettgemeinschaften auf, solange Krieg herrscht. Beide Geschlechter befolgen den Aufruf, doch die Männer brechen den Boykott, und es kommt zum Friedensschluss. In der heutigen globalisierten Welt mit ihren diversen Kriegsschauplätzen ist ein derart zustande gekommener Frieden natürlich Illusion, aber trotz allem eine reizvolle Vorstellung.

Auch Alfons Holtgreve ist ein Geschichtenerzähler. Seinen Kunstkosmos bevölkern Tiere, Autos, spitzbusige Puppen, Monster, Flugzeuge, Schmollmünder, Stufen, Blitze und Schlangen, die in summarischen Schwüngen oder präzisen Zacken – mal in monumentaler Vereinzelung, mal bildhaft-erzählend arrangiert oder zur quirligen Textur verdichtet sind. Ein geometrisches Gerüst bildet das Gegenwicht zu seiner wuchernden Figurenwelt, die der Künstler aus einfarbigen Plakatkartons und Klingen entstehen lässt. Holtgreves Bildwelt changiert zwischen Epos und Epigramm, zwischen detailliertem Wimmelbild und zeichenhafter Geste.

Helmut Heckner: Der Schreck

Helmut Heckner: Der Schreck

Einem Filmstill aus einem Film Noir oder Hitchcock-Film gleich zieht das Schnittbild »Der Schreck« von Helmut Heckner den Betrachter in den Bann. Zwei Frauengesichter en face blicken verschreckt und angstvoll. Ihre Gesichter sind teilweise verschattet und mit der Hand vor dem Mund verdeckt. Werden sie gerade Zeuginnen eines Verbrechens?

Einen sehr grafischen Ansatz haben die Schnitte von Dieter Bräutigam und Waltraude Stehwien. Beide betonen den Kontrast von Schwarz und Weiß. Stehwiens Fluchtpunktperspektive vermittelt zudem die Weite Kanadas sehr anschaulich. Roland Kauder und Frank H. Lindner zeigen Architekturdarstellungen. Lindner applizierte sein Schnittbild auf Flies- bzw. Japanpapier, das mit Grafitstaub erzeugt wird, und erzielt hierdurch eine malerische Wirkung. Er übernahm die Technik von der Schnittkünstlerin Irmingard von Freyberg (1907–1985), mit der er bereits als Kind in einem Haus wohnte. Die Komposition des Scherenschnitts von Roland Kauder ist sehr ausgewogen, überzeugt in den Details und der perspektivischen Anlage.

Der Welt des Märchens widmen sich Karin Dickel-Jonasch, Horst Grützmacher und Stefanie Schilling. Dickel-Jonasch ist eine sehr fantasievolle Künstlerin, die immer wieder mit ihren Geschöpfen jenseits der Realität überrascht. In ihren Schnitten gibt es viel zu entdecken. Verschlungen von Blumen sitzt die nackte »Kleine Blumenfee« von Horst Grützmacher. Stilistisch kommt das Bild dem Jugendstil nahe. Der Künstler verfasste eigens ein kleines Märchen für sein Schnittbild. Die Leipziger Grafikerin Stefanie Schilling erzeugt mit ihren Weißschnitten auf vorgefundenen Bildern eine z.T. unheimliche Stimmung.

Einen lyrischen Ansatz verfolgen Petra Bakker-Pijn und Ursula Kirchner. In Bakker-Pijns Buntschnitt, der in der reduzierten Formensprache an die Schnitte von Matisse erinnert, beschwört sie eine paradiesische Stimmung. Ursula Kirchner, die ohne Vorzeichnung direkt ins Papier mit der Schere schneidet, setzt sich intensiv mit der Natur auseinander, aber auch musikalische Themen werden umgesetzt. Ihre Figurenschöpfungen sind grotesk und sehr fantasievoll.

Immer wieder wurde und wird mit vorgefundenen Materialien experimentiert. So verwendet Birgitt Koch für ihre abstrakten Kompositionen Fotovorlagen und Bilder. Doris Holzknecht bemalt und beklebt ihre abstrakten Schnittformen, die sie auf Packpapier appliziert. Susanne Krüger-Eisenblätter, die Malerei an der Kunstakademie in Stuttgart studierte, fügt Bildmaterial, wie Fotos, Poster, Geschenkpapier usw., zu neuen Arrangements zusammen. Beim Schneiden mit Skalpell sollen Form und Muster eine Einheit bieten. Auch Cornelia Löhrer, Lehrerin für visuelle Kommunikation am Richard-Riemerschmied-Kolleg in Köln, ist fasziniert von diversen Papieren: bedruckte Zementsäcke, Brottüten, pixelige Großplakatfotos u.dgl. mehr. Ihre Silhouetten bilden den heutigen Menschen feinfühlig in seinem Tun und Leben ab.

Hilde Mayer: Tränenfluss

Hilde Mayer: Tränenfluss

Den Schwarzschnitt mit farbigen Papieren zu hinterlegen hat längere Tradition im Scherenschnitt. Luise Theills Kreuzwegstationen zeichnen eine moderne Bildsprache aus. Gekonnt setzt sie farbige Papiere ein, die die Emotionen visualisieren. Hilde Mayers Schnitte wirken wie Buntglasfenster. Der Kontrast zwischen schwarzen Papierstegen und farbigen Papieren ist sehr reizvoll.

Gabriele Basch spürt in ihren großformatigen Schnittbildern der Frage nach, wie sich mediale Grenzen von Malerei und Scherenschnitt, von Farbe und Linie miteinander verbinden lassen. Entwickelt aus selbstgeschnittenen Schablonen für ihre Malerei entstehen seit 1993 großformatige, direkt an der Wand installierte und ornamental strukturierte Cutouts, in denen sich die Künstlerin mit der Wahrnehmung von Alltagswelt, Zivilisation und Natur auseinandersetzt. Schnappschüsse dienen ihr hierbei als Grundlage und Gedankenskizze. Die fixierten Augenblicke als spontan Gesehenes transformieren sich im langwierigen Prozess des Zeichnens, Schneidens und Lackierens in ein Erinnertes. Das Schnittbild wird zu einem Nachbild.

Wie ein Rorschachbild wirkt der Faltschnitt nach einer Fotografie von Ernst Oppliger. Die Mitte ist dekorativ angelegt, während der Rand die Silhouette die bernische Voralpenkette mit Stockhorn zeigt. Der starke Baumstamm kippt das Bild in die Geometrie und stört die Komposition. »Sehe ich, was ich sehe?«

Die Künstlerin und Kunsthistorikerin Marion Grimm-Kirchner setzt sich ebenfalls mit ornamentalen Strukturen auseinander. Seit 1995 beschäftigt sie sich mit der Natur, die sie auf naturalistische Strukturen reduziert. In der Serie der Annis-Schnittbilder transformiert Grimm-Kirchner z.B. naturalistische Zellstrukturen in den Scherenschnitt. Den Namen leitet die Künstlerin vom Johannisbrotbraum ab. Wie bei der Borke versammeln sich kleine Zellen zu Zentren, schieben sich auseinander und fügen sich zu linienförmigen Strukturen. Die Naturnachahmung wird abstrakt. Der ornamentale Scherenschnitt wurde auf kleinen Stegen befestigt und evoziert Räumlichkeit. Besonders reizvoll ist der Hintergrund aus dem Naturprodukt Rupfen, der die faserige, netzwerkartige Struktur des Schnittes maschinell aufgreift.

Mandalaartige Ornamente faszinieren den Künstler Narada. Mandalas verweisen in der Natur auf den gemeinsamen Ursprung aller Dinge. Sie sind Symbole der Ganzheitlichlichkeit und des spirituellen Weges sowie Symbol der Zeit.

Naturformen sind auch Thema von Ruth Bühlmann. Die Künstlerin experimentiert neuerdings mit Farbe, indem sie mit selbst gedrucktem Papier arbeitet oder die Spritztechnik anwendet. Der Einsatz von Farbe in ihren zum Teil abstrakten Schnitten verleiht ihnen Lebendigkeit und Volumen. Naturalistisch ist das Blumenporträt von Brigitte Springmann. Sie zeigt das Leben einer Pfingstrose: Knospe, Blüte und ihr Verwelken. Hierbei versteht sie es, Blütenblätter und Blätter ornamental miteinander zu verweben und Licht und Schatten im Scherenschnitt umzusetzen. Doris Engelmann ordnet ihre Blumen wie eine Schautafel an. Der Kontrast zwischen Schwarz- und Buntschnitten sorgt für eine Auflockerung der Reihung.

Elisabeth Bottesi-Fischer erweitert den traditionellen Faltschnitt. Auf oder unter einen schwarzen Schnitt klebt sie farbige Blumen, Blätter, Gräser usw.; das Material hierfür stammte aus Magazinen und Katalogen. Der Farbverlauf im fertigen Schnittbild ist sehr malerisch. Die applizierten Formen verlassen die Fläche und dringen in den Raum.

Zipora Rafaelov: Neshika (Bildrechte: VG Bild-Kunst)

Zipora Rafaelov: Neshika (Bildrechte: VG Bild-Kunst)

Auch die in Düsseldorf lebende israelische Künstlerin Zipora Rafaelov löst das Material in feine Liniengespinste ornamental auf. Ihre schwarz-weißen Schnittwerke lösen fast die Fläche auf und bestehen nur noch aus fragilen Liniengespinsten. Es sind Werke zwischen Zeichnung und Skulptur. Thematisch kreisen ihre Arbeiten um die Ergründung des Wesens und der Grundlage der Dinge. Im Hebräischen bezeichnet der Begriff »Haweia« so viel wie »das Sein«. Rafaelov sucht die hiermit verknüpften abstrakten Begriffe visuell umzusetzen. Aber auch das Bild bzw. die Bilder der Frau als Verführerin, Sünderin, Mutter, Denkerin oder Gefährtin sind seit einigen Jahren Thema von Rafaelovs Kunst. Entscheidendes Moment ihrer Arbeit ist das Spiel von Licht und Schatten, von Realität, Bild und Abbild. Während die geschnittene Form unveränderlich ist, verändert sich das Schattenbild mit den Lichtverhältnissen. Licht fungiert hier als bildhauerisches Material, welches paradoxerweise die Materialität der feinen Konturlinien als immaterielle Schattenlinien in der Projektion erst ermöglicht. Erst in der Perzeption des schwarzen Schattenbildes lässt sich der weiße Bildgegenstand sukzessive erkunden.

Bertram Weises Transparentschnitte verändern sich in der Farbigkeit, wenn sie beleuchtet werden. So wird aus blauem Packpapier durch die Beleuchtung schwarzes Papier. Sie entwickeln insgesamt eine Strahlkraft wie ein Buntglasfenster in einer Kathedrale.

Esther Glück erforscht in ihren Schnittbildern die Wahrnehmung und ihr Verhältnis zur Leere, den Innen- und Außenraum. Gegenstand ihrer Kunst ist der Mensch, wie er wahrnimmt und wahrgenommen wird. Angeregt durch ihre Auseinandersetzung mit der Aktzeichnung reduziert sie die Linie auf ein Minimum, bis sie diese ausschneidet. Esther Glücks »Schnittzeichnungen« entstehen nach dem lebenden Modell zunächst als Zeichnung, um dann in einem zeitintensiven Prozess in die Technik des Scherenschnitts transformiert zu werden. Die gezeichneten Linien bleiben bei den »Schnittzeichnungen« erhalten, indem ihre Zwischenräume herausgeschnitten werden. Dünne Papierstege definieren nun die Körperlinien. Das fertige weiße Schnittbild wird zwischen zwei Glasscheiben montiert und mit Abstand zur Wand gehängt und beleuchtet, wobei eine Schattenzeichnung des Schnittbildes entsteht.

Die Linie ist auch für Dorthe Goeden wichtig. In ihren meist großformatigen Schnittbildern löst sie das Papier mit einem Skalpell in ein komplexes Netz von Linien auf. Buchstaben, Bäume oder Menschen durchziehen und überlagern den Bildraum wie comichafte Skizzen. Im Scherenschnitt verbinden sich für die Künstlerin nun Zeichnung und Skulptur. Insbesondere der Objektcharakter des Schnittbildes ist für sie von Bedeutung. So präsentiert sie ihre Schnittbilder direkt an der Wand, nur mit kleinen Nägeln befestigt; auch Werke in einem Objektrahmen sind nicht auf einen Trägergrund appliziert, sondern ebenfalls auf kleine Stifte gesetzt. Die Körperlichkeit des Schnittes und des Bildes wird auf diese Weise betont, die Interaktion von Licht und Schatten kann beginnen. Scheinen die schwarz-weiß Schnittbilder von Dorthe Goeden formal eindeutig, irritieren sie inhaltlich. Sie umgibt eine Aura der Stille und Versunkenheit. Sie sind enigmatisch. Der inhaltliche Bezug hängt vom Betrachter ab und bleibt offen. Dorthe Goedens Schnittbilder sind Bilder zwischen Wirklichkeit und Vorstellung.

Der Schweizer Künstler Heinz Pfister ist bekannt für seine Modeschnitte. Seine fast nur aus Streifen bestehenden Motive sind verspielt, hintergründig und erotisch. Er schafft mit dem Skalpell Dreidimensionalität in seine Schnittbilder. Wie ein barocker Muskelmann erscheint ein weibliches Porträt, das der chinesische Künstler und Professor an der »Zentralen Kunsthochschule« in Peking Lin Gong im Faltschnitt anfertigte. Mit feinen Linien schafft er die Vorstellung von Körperlichkeit. Auch Helga Borngässer-Geyl greift in ihrer Serie »Frauenträume« das Thema Mode auf. Fantasiereich entwickelt sie filigrane, mit Blüten versehene Schuhe. Ausgesprochen sinnlich sind ihre Frauenbilder, die wie Neuschöpfungen des Jugendstils anmuten.

Daniela Huber: o.T. (Unräume)

Daniela Huber: o.T. (Unräume)

Unbewusst führt Daniela Huber die Tradition des barocken Kulissenschnitts weiter, bei dem diverse geschnittene Papiere über- und untereinander gelagert sind und so Räumlichkeit suggerieren. Hubers Papierreliefs bestehen nun aus einzelnen bemalten und ausgeschnitten Formen, die mit unterschiedlichen Abständen zum Untergrund in einem 5 cm tiefen Rahmen montiert sind, so dass der Eindruck von Räumlichkeit entsteht. Daniela Hubers Schnittobjekte haben einen biografischen Bezug und setzen sich mit Architekturutopien und dem urbanen Raum sachlich auseinander. Sie zeigen einen Mikrokosmos gelebter Erinnerungen und empfundener Raumerfahrungen. Schicht für Schicht entstehen Bedeutungsschichten, die es zu ergründen gilt. Die eigene Erinnerung wird in Gang gesetzt und Assoziationen werden frei. Es ist die Welt Daniela Hubers, die der Betrachter sieht, und doch ist es auch ein bisschen seine eigene.

Anne Behrens, die lange als Kunsterzieherin an der Fachhochschule für Sozialpädagogik an dem Berufsbildungszentrum Grevenbroich arbeitete, ist bekannt für ihre »Zuckertüten«. Die Künstlerin lässt sich von Alltagsmaterialien inspirieren: Plakate, bereits verwendete Bögen oder Zuckertüten. Besonders die doppelwandige Konstruktion dieser Tüten fasziniert sie und bietet die Basis für dreidimensionale Schnittobjekte. Sie schneidet sie auf oder ein, niemals wird jedoch die Funktionalität der Tüte beschnitten. Einzelne Buchstaben oder geometrische Formen setzt sie auf die Tüten bzw. lässt sie aus ihnen herausquellen.

Auch Doris Heymann erweitert die Fläche in den Raum. In ihrem gitterartigen, leicht gebogenen Schwarzschnitt schnürte sie rote Wolle, die als Knäuel hinter der Netzstruktur zu erkennen ist. Ein langer roter Faden hängt locker aus dem Schnittobjekt heraus und kann sich frei bewegen. Das Schattenspiel verleiht dem Objekt Lebendigkeit. Heymann spielt zudem mit dem Kontrast der Materialien: weiche Wolle und harter Karton. Doch der Karton ist gar nicht so unbeugsam. Er wird »Auf Biegen und Brechen«, also unbedingt, zum Raum.

Wann konstituiert sich Bedeutung? Wie nehme ich etwas wahr? Wie funktioniert Kommunikation? Diese Fragen wirft Harriet Groß in ihren wand- und raumfüllenden Schnittinstallationen auf. Während ihres Studiums der Medizin spezialisierte sie sich auf Kognitionswissenschaft, d.h. die Erforschung des Denkens und der Sprache als bewusste und unbewusste Prozesse. Ihre Cutouts sind aus schwarzem Papier oder Aluminiumfolie geschnitten und mit Abstand zur Wand gehängt. Sie sind über Jahre gesammelte Blicke, die ein Filtrat scheinbar subjektiver Erfahrungen bilden. Diese Bilder können von allen gelesen und gefiltert werden, so dass Allgemeines und auch für jeden etwas Spezielles wahrgenommen werden kann. Verortet sind die Schnitte in weiten, an der Wand gespannten Schnurzeichnungen. Dieses Raster imaginiert wiederum Räume oder Regale. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Fläche und Körper zum Raum, zwischen ideellem und konkretem Raum; aber auch zwischen Innen und Außen. Es ist im Besonderen diese Schwelle, das Moment des Übergangs, des Dazwischen, in dem sich Bedeutung für Harriet Groß konstituiert.

Annemarie Gottfried-Frost fertigt Puppen, Figuren und Skulpturen aus unterschiedlichen Materialien. Ab 1988 entstanden insbesondere Papierskulpturen in allen Größen. Für ihre Arbeit als Kulturschaffende erhielt sie 1990 den Otto-Ubbelohde-Preis des Landkreises Marburg-Biedenkopf sowie 2003 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.

Die Illustratorin und Autorin Barbara Steinitz setzt sich seit 2004 intensiv mit dem Schattentheater auseinander. Für die Illustrationen zu »Rosie und der Urgroßvater« (Carl Hanser Verlag München) erhielt sie zahlreiche Preise. Sie schneidet Silhouetten, die sie hinter einem transparenten Papier fixiert, von hinten beleuchtet und dann fotografiert. In ihrer neuesten Arbeit hat sich Steinitz mit dem bewegten Bild auseinandergesetzt. Für das Musikvideo »Down Under, Mining« von »Dear Reader« schuf sie einen eindrucksvollen Scherenschnitt-Animationsfilm, der von der harten Arbeit der Grubenarbeiter in Johannesburg um 1900 erzählt.

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Übersicht

1. Einleitung
2. Geschichte des Scherenschnitts – eine Skizze
3. Scherenschnitt heute
4. Fazit
Literatur

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